Ich hatte vor kurzem das gro\u00dfe Gl\u00fcck einen Tag mit einem au\u00dfergew\u00f6hnlichen Freimaurer zu verbringen, von dem ich das erste Mal aus der Zeitung<\/a> erfahren habe und den ich seitdem unbedingt pers\u00f6nlich kennenlernen wollte: Kenan Yilmaz, Bruder der \u00bbVictoria\u00ab-Loge in Berlin<\/a>.<\/p>\n

Kenan ist 40, verheiratet und Vater einer neunj\u00e4hrigen Tochter. Bevor er Freimaurer wurde, war er Maurer, Taxifahrer, Detektiv, Pizzabote und -b\u00e4cker. Inzwischen betreibt er ein Franchise-Unternehmen mit sechs Kampfkunstschulen<\/a>. Aber in denen bringt er seinen mittlerweile \u00fcber 1.000 Sch\u00fclern eigentlich gar nicht das bei, was sie glauben \u2013 und wahrscheinlich ist sogar genau das Kenans Erfolgsgeheimnis. Durchs \u00bbWing Chun\u00ab lehrt er sie etwas Wichtigeres: Toleranz, Respekt und Zivilcourage \u2013 und zwar da, wo’s wirklich not- und wehtut:
\nEr, der Deutsche mit den unverkennbar t\u00fcrkischen Wurzeln, hat seine Zelte in Berliner \u00bbProblembezirken\u00ab aufgeschlagen. In Nachbarschaft zu Nazi-Kneipen, Motorrad-Clubs und Moscheen.<\/p>\n

Manche Erwachsene jener Kreise habe er schon als Kunden abgelehnt, wenn sie seine Regeln nicht akzeptierten, zum Beispiel nicht zusammen mit Frauen oder Ausl\u00e4ndern trainieren wollten, erz\u00e4hlt mir Kenan stolz. F\u00fcr deren Kinder mache er aber dann trotzdem Ausnahmen. Bei Kids habe er ja immerhin die Chance, ihnen noch etwas mitzugeben. Wenn die irgendwann mal zu Hause sagen \u00bbMein Freund ist Ausl\u00e4nder, oder Jude, oder Christ oder Moslem \u2013 wo bitte ist dein Problem, Papa?\u00ab, dann habe er die Welt wirklich ein kleines bisschen besser machen k\u00f6nnen.<\/p>\n

Kenan hat mir Orte gezeigt, die ihm viel bedeuten, und ich habe Menschen kennengelernt, denen er viel bedeutet:<\/p>\n

Marcus, den Aram\u00e4er, Aki, den Griechen mit Berliner Akzent und Tony, den rauscheb\u00e4rtigen Kroaten, den Kenan zum Sprung in die Selbstst\u00e4ndigkeit als Konditor<\/a> ermutigt hat. Sie alle kennen Kenan aus seiner Kampfkunstschule. Und obwohl er ihnen l\u00e4ngst ein Freund geworden ist, nennen sie ihn immer noch \u00bbSifu\u00ab \u2013 Lehrer.<\/p>\n

Gemeinsam haben wir Kaffee getrunken, Kuchen gegessen, \u00fcber Gott und die Welt geplaudert, \u00fcbers Leben, Lieben und Sterben. Ich habe mitgeschnitten und mitgeschrieben, um daraus irgendwann ein Portrait zu machen. Wahrscheinlich werden Wochen vergehen, bis ich alles ausgewertet habe. Aber einiges ist mir auch so gut im Ged\u00e4chtnis geblieben:<\/p>\n

Kenan ist in Berlin-Neuk\u00f6lln aufgewachsen. Mit Clans und Stra\u00dfengangs. Die Kindheit war nicht immer einfach, gepr\u00e4gt von Schl\u00e4gen und Schl\u00e4gereien. Mit 13 verliert Kenan seine Schwester \u2013 und mit ihr noch viel mehr: den Glauben an Gott. \u203aWie kann er so was nur zulassen, wenn’s ihn wirklich geben sollte?\u2039, fragt sich der Junge. Und sucht trotzdem Trost im Glauben, dem Islam, \u00fcber den ihm seine Mutter immer so viel Gutes erz\u00e4hlt hat.<\/p>\n

Doch als er irgendwann das erste Mal selbst den Koran liest, kommt er wieder ins Zweifeln: S\u00f6hne sollen beim Erben gegen\u00fcber T\u00f6chtern bevorzugt werden? Frauen d\u00fcrfen nur einen Mann, aber M\u00e4nner bis zu vier Frauen heiraten? Das hatte ihm seine Mutter nicht erz\u00e4hlt. Und es scheint ihm furchtbar ungerecht, was er da pl\u00f6tzlich liest. So kommt er wieder vom Glauben ab.<\/p>\n

Die Freimaurerei habe dann vor sieben Jahren nicht nur einen besseren Menschen aus ihm gemacht. Seine christlichen und j\u00fcdischen Br\u00fcder h\u00e4tten ihn auch wieder mit seinem Islam vers\u00f6hnt. \u00bbWie das?\u00ab, frage ich erstaunt.<\/p>\n

Er l\u00e4chelt. Sie h\u00e4tten ihm beigebracht, dass es eben nicht nur schwarz und wei\u00df gebe. Dass es wichtig sei, tiefer zu blicken, die Dinge immer in ihrem Zusammenhang zu betrachten, dass das, was er zum Beispiel am Koran heute als ungerecht gegen\u00fcber Frauen empfindet, fr\u00fcher, als der Koran geschrieben wurde, geradezu revolution\u00e4r war \u2013 weil Frauen vorher \u00fcberhaupt keine Rechte hatten, meist leer ausgingen, wenn der Mann starb, gar nichts erbten. Und dass es eine Zeit war, in der viele M\u00e4nner im Krieg starben und es so bald viel mehr Frauen als M\u00e4nner gab, weshalb das, was uns heute nur noch wie \u203aVielweiberei\u2039 vorkommt, fr\u00fcher eine Art Sozialversicherung war.<\/p>\n

Ich bin \u00fcberrascht. Kenans Antwort hat auch meine Sicht bereichert. Auch mich etwas vers\u00f6hnt \u2013 mit einem Glauben, von dem ich wenig genug wei\u00df, um viele Vorurteile haben.<\/p>\n

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum ich gut nachvollziehen kann, dass Kenan so f\u00fcr die Freimaurerei brennt. Auch wenn er es \u2013 wie ich \u2013 eher selten zu Logentreffen schafft, vergehe kein Tag, an dem er nicht an die Freimaurerei denke. Worte wie \u00bbSelbsterkenntnis\u00ab oder \u00bbBeharrlichkeit\u00ab habe er vorher gar nicht gekannt. Er arbeite inzwischen t\u00e4glich an sich, habe durch die Freimaurerei Toleranz gelernt, sei ausgeglichener, ruhiger und geduldiger geworden. Und w\u00e4hrend er das sagt, wippt er mit den F\u00fc\u00dfen, spr\u00fcht nur so vor Energie \u2013 Ruhe, Geduld und Beharrlichkeit?
\nIch schaue seine Frau Nalan an.
\nFragend.
\nSie schmunzelt.
\nVielsagend.<\/p>\n

Es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Heute \u2013 und \u00fcberhaupt!
\nWir m\u00fcssen aufbrechen. Kenan quer durch Berlin ins Logenhaus, ich zum Flughafen.<\/p>\n

Noch schnell ein gemeinsames Abschiedsfoto. Ich bedanke mich bei ihm f\u00fcr einen tollen Tag, dass er sich so viel Zeit f\u00fcr mich genommen, mich herumkutschiert und ausgehalten hat.
\n\u00bbSelbstverst\u00e4ndlich ist so was ja nicht\u00ab, sage ich.
\n\u00bbH\u00e4h?\u00ab Er glotzt mich an wie ein Auto.
\nIch glotze zur\u00fcck \u2013 h\u00e4h? Wieso H\u00e4h?
\n\u00bbAber\u00ab, sagt er, \u00bbDu bist doch mein Bruder!\u00ab<\/p>\n

Ich muss schmunzeln:
\nJa. Bin ich.
\nUnd verdammt stolz drauf.<\/p>\n

\u2013\u2013\u2013\u2013<\/p>\n

Die vollst\u00e4ndige Version dieses Freimaurer-Portr\u00e4ts + neun weitere gibt es in meinem Buch \u00bbNicht von gestern: Freimaurer heute\u00ab<\/a>.<\/p>\n

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