Aufmarsch von HoGeSa, PEGIDA, Salafisten, Linksextremisten und gemäßigten Gegendemonstranten in Wuppertal. Fast zeitgleich hatte ich mein Rezensionsexemplar von »Liberté Cherie« fertig gelesen, über die Gründung der gleichnamigen Freimaurer-Loge durch Insassen des KZs Esterwegen. Ein erschütternder Bericht von Bruder Franz Bridoux’ aus Belgien*. Schon das Vorwort hatte mich nachdenklich gemacht:
»An den freien Menschen! Dir ist dieses Werk gewidmet. Es erklärt und sagt in einfachen Worten wieder und wieder, dass die Freiheit kein Geschenk des Himmels ist, dass sie Dir nicht zusteht, dass Du kein Anrecht auf sie hast, dass sie kein unveränderlicher Zustand ist. Sie muss Tag für Tag verdient und gewonnen werden; sie muss verteidigt und beschützt werden, denn sie ist zerbrechlich wie ein Kristall. Wenn Du nicht auf sie achtest, löst sie sich auf, noch bevor Du auch nur einen Finger gerührt oder ein Wort gesagt hast. Und wenn Du diesen Schatz verloren hast, siehst Du, dass sich der Mensch wie ein wildes grausames Tier verhalten kann. Der Mensch wird zum Wolf unter Wölfen – oder nein, nicht so. Das wäre nicht recht … dem Wolf gegenüber, der weniger grausam ist als man sagt, während wir Menschen zu unbegrenzter Grausamkeit fähig sind. Unsere Pflicht als Menschen, erst recht als Freimaurer, ist es, wachsam zu sein. Das Untier schläft ja nur, vollgefressen mit Tragödien und Toten. Es steht wieder auf, irgendwo, irgendwann. Wenn wir es nicht schon beim Erwachen niederkämpfen, wächst es mit rasender Geschwindigkeit zu einem vielköpfigen Ungeheuer heran, jedes Gesicht scheußlicher als das andere. Täuschen wir uns nicht. (…) Doch beginnen wir bei uns selbst – das ist ein Anfang.«
Bei uns selbst beginnen? Sicherlich leichter gesagt, als getan! Ich war beim großen Demo-Samstag in Wuppertal jedenfalls nicht auf der Straße, um für oder gegen irgendwas oder irgendwen zu demonstrieren. Aber wenn – und dieser Gedanke war für mich zunächst gewöhnungsbedürftig – dann hätte ich dort womöglich sogar dem ein oder anderen Bruder gegenüber gestanden. Denn (obwohl eher Ausnahme als Regel): Es gibt auch unter Freimaurern Brüder mit Sympathien für PEGIDA und HoGeSa. Oder sollte ich vielleicht versöhnlicher schreiben: Mit Ängsten vor Überfremdung oder Islamisierung? Angst macht halt vor niemandem Halt.
Ich habe in den letzten Wochen miterlebt, wie solchen Brüdern andere Brüder bei Facebook vereinzelt die »Freundschaft« gekündigt haben. Als eine Art »Null-Toleranz-Strategie«. Sicherlich ein Zeichen. Auch ich habe mich schon dabei ertappt, bei einem Härtefall zumindest bereits auf »ignorieren« geklickt zu haben.
Nach der Lektüre von »Liberté Cherie« frage ich mich aber: Wie hätte wohl Bruder Franz Bridoux reagiert? Hätte auch er solche »Freundschaften« gekündigt? Auf »ignorieren« geklickt? Oder hätte er unermüdlich den Dialog gesucht? Versucht, als Freimaurer auch unter Freimauern Brücken zu bauen, statt Gräben zu ziehen? Kann man nicht auch im Gespräch bleiben und »null Toleranz« zeigen? Wie um alles in der Welt hätte Bruder Franz reagiert?
Ich weiß es nicht und habe daher diese Frage anderen Brüdern im Rahmen eines freimaurerischen Kerzengesprächs gestellt. Und zu meinem Erstaunen wurde die Frage von manchen als womöglich zu politisch oder religiös für die Freimaurerei empfunden. Streitgespräche über Politik und Religion sollten ja nach den sog. »Alten Pflichten« in Logen traditionell möglichst ausgeklammert bleiben, um die sensible freimaurerische »Einheit in Vielfalt« nicht zu gefährden bzw. um ein Miteinander wenigstens in den Logen etwas einfacher zu machen, als es in der wirren Welt da draußen ist.
Zugegeben: Man kann die Frage »Was hätte Bruder Franz getan?« politisch oder religiös auffassen. Es handelt sich immerhin (auch für mich) um Reizthemen, die mich auf diese Frage gebracht haben. Und wenn man die Frage politisch oder religiös beantworten will, wird’s wirklich heikel. Aber eigentlich war die Frage gar nicht politisch oder religiös gemeint. Eigentlich ging es mir um etwas ganz Alltägliches:
Wie geht man am besten mit etwas um, das einem missfällt, das einen beunruhigt?
Das ist es, was mich als Freimaurer zunächst einmal hauptsächlich interessiert, um so, wie im »Liberté Cherie«-Vorwort gefordert, »bei mir beginnen« zu können.
Eines ist mir nämlich inzwischen klar geworden:
Es ist leicht, in der virtuellen Welt auszublenden, was einem nicht ›gefällt‹. Bis, ja: Bis es irgendwann in der realen Welt ›vor deiner Tür‹ steht.
So wie kürzlich.
Bei mir um die Ecke.
In Wuppertal.
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Und?! Was glaubt ihr? Was hätte Bruder Franz getan?
[*zur Klarstellung entgegen evtl. anders lautender Angaben: Franz Bridoux lebt/ist nicht verstorben!]